Ars moriendi – Die Kunst des Sterbens

Ein Essay von Peter Rose

Die Gewissheit des Todes
Memento mori – Gedenke, dass du sterblich bist. Dieser kirchlichen Mahnung, die den mittelalterlichen Menschen zu einem gottgefälligen Leben motivieren sollte, bedurften die in der Krisenzeit des späten Mittelalters Lebenden kaum mehr: Seit dem 14. Jahrhundert gab es eine Häufung von Naturkatastrophen mit Hungersnöten und sich ausbreitenden Seuchen, wie der Pest, die eine extrem hohe Sterblichkeitsrate in der Bevölkerung verursachten. Der „Schwarze Tod“ machte das Sterben zu einem ganz alltäglichen Ereignis: „Da sieht jeder, wie heute dieser, morgen jener Nachbar von der furchtbaren Krankheit ergriffen wird.“[ref]Rudolf, Rainer: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens. Köln / Graz 1957, S. 9.[/ref] Jeder Mensch war sich damals bewusst, dass es auch ihn jederzeit dahin raffen konnte, „Tod und Verfall [rückten] den Menschen in vorher nicht gekannter Weise buchstäblich auf den Leib.“[ref]Reudenbach, Bruno: Tod und Vergänglichkeit in Bildern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Dülmen, Richard van: Erfindung des Menschen. Schöpfungsräume und Körperbilder 1500-2000, S. 73.[/ref]

Die zunehmende Bedeutung der Städte und der Geldwirtschaft sorgten im Spätmittelalter für gesellschaftliche Veränderungen. Durch das erstarkende Bürgertum in den Städten wurden die starren Standesgrenzen zwischen Adel, Klerus und Bauern durchlässiger. Der spätmittelalterliche Mensch definierte sich nun nicht mehr ausschließlich über seinen Stand, sondern auch über seine Leistung als Individuum. Diese an sich begrüßenswerte Entwicklung verursachte aber – wie die meisten gesellschaftlichen Umbrüche – auch Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Die Individualisierung der Menschen und ihre Hinwendung zum weltlichen Leben im Diesseits sorgten bei ihnen für zunehmende Zweifel über das eigene Schicksal im Jenseits. Dass es ein Leben nach dem Tode geben würde, war weiterhin gesellschaftlicher Konsens. Auch über die möglichen jenseitigen Aufenthaltsorte – Himmel, Hölle und dem zeitlich begrenzten Fegefeuer auf dem Weg dorthin – herrschte Einmütigkeit. Da aber niemand mit Sicherheit wusste, an welchen Ort er nach seinem Ableben gelangen würde und wie lange er im Fegefeuer ausharren müsste, war der kommende Tod die einzige Gewissheit.[ref]Vgl. Hannemann, Cornelia: Das Bild des Todes in Artes moriendi und Totentänzen des ausgehenden 15. Jahrhunderts, Magisterarbeit Universität Hamburg 2004, S. 5.[/ref]

Die Angst vor dem Tod
Die Sorge um das eigene Seelenheil trieb die damals lebenden Menschen deshalb besonders um – angesichts des allgegenwärtigen Todes in der unmittelbaren Nachbarschaft steigerte sich die Heilssorge oft in eine regelrechte Heilsangst.[ref]Resch, Claudia: Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformatorische Anleitungen zur Seelsorge an Kranken und Sterbenden, Tübingen 2006, S. 18.[/ref] Die „letzte Stunde“ wurde im späten Mittelalter als eine Art Prüfung mit ungewissem Ausgang empfunden und gefürchtet. „Denn nun“ – in eben dieser Stunde – „fällt die letzte unwiderrufliche Entscheidung. Von der sittlichen Verfassung des Menschen in der Todesstunde hängt ja sein ewiges Schicksal ab.“[ref]Rudolf: Ars moriendi, S. 56.[/ref] Diese Vorstellung einer letzten Prüfung verdrängte die bis dahin vorherrschende Erwartung des Jüngsten Gerichts in unbestimmter Zukunft – die Entscheidung über das ewige Schicksal des Einzelnen wurde „ein entsetzliches Spiel“ direkt an seinem Lebensende.[ref]Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, München / Wien 1980, S. 140.[/ref]

„Ein derart hohes Risiko hat etwas Erschreckendes, und man versteht denn auch, daß die Angst vor dem Jenseits damals ganze Bevölkerungsschichten erfaßte, die noch keine Furcht vor dem Tode kannte.“[ref]Vgl. ebd., S. 141.[/ref] Der Tod wurde von den damals lebenden Menschen in seiner ganzen Drastik und Härte erfahren, was verständlicherweise zu einer pessimistischen Grundhaltung führte. Die Kirche war angesichts dieser weit verbreiteten Angst und Verzweiflung kaum mehr in der Lage hinreichenden Trost zu spenden.[ref]Vgl. Haas, Alois M.: Tod und Jenseits in der deutschen Literatur des Mittelalter. In: Jezler, Peter(Hg.): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Ausstellungskatalog Zürich 1994, S. 74.[/ref]

Das Bild vom Tod
Der Tod mit all seinen Schrecknissen wurde den Menschen im Spätmittelalter „multimedial“ anschaulich gemacht. In Predigten und literarischen Schriften wurde der Verachtung der irdischen Welt (Contemptus mundi), dem ständigen Gedenken des Todes (Memento mori) und einer daher notwendigen Lehre des heilsamen Sterbens (Ars moriendi) in Wort und Schrift Ausdruck verliehen. Bildliche Darstellungen vom Verfall und der Verwesung des menschlichen Körpers sowie personifizierte Darstellungen des Todes avancierten im sakralen Bereich zum Standard und unterstützten die theologischen Texte. Auch die leseunkundige Bevölkerung erhielt so einen Zugang zur damals aktuellen christlichen Vorstellungswelt über Tod und Jenseits, sofern diese über die realen Erfahrungen mit dem Tod überhaupt hinaus ging. Den führenden Theologen der damaligen Zeit war es vermutlich wichtig, die Allgegenwart des Todes – ausgelöst durch Naturkatastrophen, Hunger, Epidemien, Krieg und Gewalt – plausibel in die christliche Lehre zu integrieren, damit diese glaubwürdig bliebe. „Keine Zeit hat mit solcher Eindringlichkeit jedermann fort und fort den Todesgedanken eingeprägt wie das fünfzehnte Jahrhundert.“[ref]Huizinga, Johann: Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1990, S. 190., Zit. n. Reudenbach: Tod und Vergänglichkeit in Bildern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 73.[/ref] Die permanente Wahrnehmung von Tod, Gericht, Himmel und Hölle sollten Betrachter, Leser und Zuhörer auch vor den vermeintlich schlimmen Konsequenzen sündigen Verhaltens warnen.[ref]Vgl. Haas: Tod und Jenseits in der deutschen Literatur des Mittelalter, S. 74.[/ref]

Die Auseinandersetzung mit dem Tod
In der Sterbeliteratur der ars moriendi wird der Tod als das zentrale Geschehen im Leben dargestellt. Alles Entscheidende für das jenseitige Leben nach dem Tode wurde in die letzte Phase des irdischen Lebens – die Sterbephase – verlegt. Somit wurde eingestanden, dass das irdische Leben trotz der Vorschriften und Gebote der christlichen Lehre eigentlich unzähmbar und unlenkbar war.[ref]Vgl. ebd., S. 76.[/ref] Durch die Verlegung der Entscheidung über den weiteren Weg nach dem Tode an das Ende des Lebens förderte die Kirche – wenn auch ungewollt – eine bürgerliche Verweltlichung des christlichen Daseins. Warum, so werden sich die damaligen Zeitgenossen gefragt haben, sollte auch das ganze Leben christlich geprägt und durchstrukturiert sein, wenn sich der weitere Weg nach dem Tode doch erst auf dem Sterbebett entscheidet.[ref]Vgl. ebd., S. 76.[/ref]

Für die große Anzahl der Kranken und Sterbenden gab es viel zu wenig Priester, die diese Menschen in ihrer letzte Stunde seelsorgerisch begleiten konnten. So ging man seitens der Kirche dazu über, schon die Lebenden und Gesunden in Predigten auf ihren Tod vorzubereiten. Ursprünglich für den Priester bestimmte schriftliche Anweisungen für Handlungen und Rituale in der Todesstunde der ihnen anvertrauten Gläubigen fanden bald auch außerhalb der Priesterschaft unter Laien weite Verbreitung. Die in diesen „Todesbüchlein“ niedergeschriebene Kunst des Sterbens, die ars moriendi, wurde meist von Klerikern aus einem reformerischen Umfeld abgefasst.[ref] Vgl. ebd., S. 74f.[/ref]

Neben den schriftlichen Anweisungen wurden zunehmend auch bildliche Darstellungen des Sterbeprozesses in den ars moriendi verbreitet. Auch der leseunkundigen Bevölkerung konnte nun durch Bilder, die in einer Holzschnitttechnik gedruckt wurden, ein Leitfaden zur „Kunst des guten Sterbens“ vermittelt werden. Die „Ars moriendi der fünf Anfechtungen“, auch „Bilder-Ars“ genannt, ist das wohl berühmteste Sterbebüchlein des 15. Jahrhunderts.[ref]Rudolf: Ars moriendi, S. 69.[/ref] Die Erstausgabe, ein Blockbuch mit Holzschnitten, ist vermutlich um 1465 im Rheinland entstanden. Von hier aus breitete sich die „Bilder-Ars“ über ganz Deutschland und in Westeuropa aus. Für die Gestaltung der Bilder in der Erstausgabe kommt als „Meister E.S.“ genannter Künstler in Frage, dessen Urheberschaft aber nicht gesichert ist. Der Text ist möglicherweise schon älter, er könnte bereits 1408 oder 1414 von einem französischen Geistlichen verfasst worden sein. [ref]Rudolf, Rainer: Art. „Bilder-Ars-Moriendi“, In Verfasserlexikon VI, 1978, Sp. 862.[/ref] Die erste deutsche Ausgabe ist um 1470 entstanden. Die Holzschnitte zu dieser Ausgabe hat ein Künstler „Ludwig von Ulm“ geschaffen, dessen genaue Identität aber nicht bekannt ist.[ref]Vgl. Hannemann: Das Bild des Todes in Artes moriendi, S. 54.[/ref]

Viele Menschen waren damals in ihrer letzten Stunde auf sich allein gestellt. Ohne priesterlichen Beistand mussten sie aus dem Leben scheiden. Solch Aussichten waren für unsere Vorfahren sehr beängstigend, weil nach ihren damaligen Vorstellungen die Mächte des Bösen in letzten kritischen Augenblicken eines Menschen noch einmal alles daran setzen würden, um mit List und Tücke seiner bald aus dem Körper weichenden Seele habhaft zu werden. Hier setzte der Sterbeleitfaden an: In elf Holzschnitten führte die „Bilder-Ars“ dem Betrachter drastisch vor Augen, um welche teuflischen Listen es sich bei diesen Versuchungen wohl handeln würde und wie man sich gegen diese zur Wehr setzen konnte. Um eine Allgemeinverständlichkeit zu erreichen, wurde der Kampf um die Seele personifiziert dargestellt. Der Sterbende ist als ein Mann in den besten Jahren dargestellt, mit dem sich viele leicht identifizieren konnten. Hatte man sich die elf Illustrationen ein paar Mal angesehen, kannte man deren Inhalt schnell auswendig. Wenn man dieses schon in jungen Jahren tat, war man anschließend ein Leben lang für den letzten Kampf gerüstet und brauchte sich in der Sterbestunde nur so zu verhalten, wie es im Leitfaden anhand des sterbenden „Jedermanns“ beispielhaft zu sehen war. Man würde dann in den letzten Augenblicken auf Erden allen teuflischen Versuchungen widerstehen und gottgefällig sterben können – und somit die ewige Glückseligkeit erlangen.[ref]Vgl. Imhof, Arthur E.: Ars moriendi ,1997-2001, http://userpage.fu-berlin.de/~history1/ks/arsmor.htm#vor (23.01.2011)[/ref]

Dargestellt wird in den elf Bildern der glücklich ausgehende Kampf um die Seele eines Jedermann in der Sterbestunde. Es gehören immer zwei Bilder zusammen. Die fünf Holzschnitte auf der linken Seite visualisieren die fünf größten teuflischen Versuchungen, die man sich damals vorstellen konnte, die fünf Antwortbilder auf der rechten Seite zeigen, wie himmlische Mächte dem Sterbenden zu Hilfe eilen, ihm beistehen und ihn zum Widerstand gegen die teuflischen Versuchungen und zum Ausharren ermutigen:

„Versuchung im Glauben“ und „Ermutigung im Glauben“

„Versuchung durch Verzweiflung“ und „Trost durch Zuversicht“

„Versuchung durch Ungeduld“ und „Trost durch Geduld“

„Versuchung durch Hochmut“ und „Trost durch Demut“

„Versuchung durch irdische Güter“ und „Trost durch Abwenden vom Irdischen“

Im elften Bild ist der Kampf entschieden, die himmlischen Mächte haben gesiegt, die Seele des nun Verstorbenen ist gerettet – Ende gut, alles gut.[ref]Vgl. ebd.[/ref]

„Erlösung der Seele“

Die Sterbehilfe im damaligen Sinne kann als psychologische Unterstützung des Sterbenden auf seinem letzten und entscheidenden Weg gesehen werden. Insbesondere galt es, sich auf die „Vier Letzten Dinge des Menschen“ vorzubereiten: Tod, Gericht, Himmel und Hölle.[ref]Vgl. Haas: Tod und Jenseits in der deutschen Literatur des Mittelalter, S. 70.[/ref] Im Spätmittelalter wurden die „Letzten Dinge“ und der Tod zu einem beherrschenden Thema in der christlichen Lehre. [ref] Vgl. ebd., S. 74.[/ref] Im christlichen Abendland gab es deshalb der eine „wahre Flut von Anleitungen zu einem heilsamen Sterben“.[ref]Rudolf: Ars moriendi, S. 62.[/ref] Die Sterbeleitfäden wurden, auch begünstigt durch die Fortschritte in der Drucktechnik, zu einem erfolgreichen „Massenmedium“ – dieser Erfolg beruhte nicht zuletzt auf die Illustrationen der „Bilder-Ars“, welche auch die überwiegend leseunkundige Bevölkerung ansprach.

Die Tabuisierung und Wiederentdeckung des Todes
Der Tod wird bis heute in den westlichen Industriegesellschaften tabuisiert und quasi ausgeblendet, während er im Mittelalter omnipräsent war und daher kaum ignoriert werden konnte. Der mittelalterliche Mensch musste sich bei Zeiten mit Tod und Jenseits auseinandersetzen und der bevorstehende eigene Tod wurde als integraler Bestandteil des Lebens angesehen und akzeptiert.[ref]Vgl. Haas: Tod und Jenseits in der deutschen Literatur des Mittelalter, S. 69.[/ref] Sterben war im Mittelalter kein Akt im Verborgenen, sondern fand öffentlich statt – die Menschen waren bestrebt mit Anstand und Würde zu sterben.[ref]Vgl. ebd., S. 72.[/ref] Mit dem Wissen um seinen nahenden Tod nahm der mittelalterliche Mensch „sterbend die Regie seines Sterbens in die Hand“.[ref]Vgl. ebd., S. 73.[/ref]

Der heutige Mensch hat diese Regie weitgehend an die Medizin und ihre Apparate abgegeben – das Sterben findet in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Kliniken und Pflegeheimen statt. Es scheint aber, dass hier langsam ein Diskurs über den Sinn und Unsinn lebensverlängernder respektive das Sterben hinauszögernder Maßnahmen in Gang kommt. Der Wunsch todkranker Menschen zu Hause im Kreise ihrer Angehörigen zu sterben wird nach meiner Wahrnehmung größer und auch öfter erfüllt. Einen allgemein anerkannten Leitfaden für das „richtige“ Sterben wird es in unserer pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft wohl nicht mehr geben können – aber wenn wir uns auch zu Lebzeiten schon mit dem Tod auseinandersetzen und ihn enttabuisieren könnten, wäre ihm vielleicht Einiges von seinem Schrecken genommen.

Ars moriendi – Blockbücher aus bayerischen Sammlungen