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Das Prekariat – ein neues Proletariat?

Ein Essay von Peter Rose

Rückkehr der sozialen Frage
„Gerade in der jetzigen Zeit tobt der Kampf um die Existenz mit furchtbarer Heftig­keit.“[1] Dieser Satz stammt aus dem Jahre 1913 und war damals im Vorwärts, der Parteizeitung der SPD, zu lesen. Fast 100 Jahre später berichtet die gleiche Zeitung im Februar 2010 über die immer größer werdende Not in Deutschland[2] und stellt auf der Titelseite die Frage: „Wer rettet den sozialen Staat?“. Demnach scheint das State­ment zum Existenzkampf aus den 1910er Jahren in gewisser Weise auch heute noch zuzutreffen. Haben also die gesellschaftli­chen Verhältnisse und Probleme von 1913 mit denen der Gegenwart etwas gemeinsam – und: wie viel politi­sche Sprengkraft steckt in einer Zuspitzung der sozialen Lage? Das Prekariat – ein neues Proletariat? weiterlesen

Wohnungselend in Berlin während der Urbanisierung

Bundesarchiv, Bild 183-1983-0225-309 / CC-BY-SA In dieser Wohnung, bestehend aus einem Zimmer und einer Küche, lebten zu Beginn des 20. Jhdts. 11 PersonenIn seinem Erfahrungsbericht von einem Besuch in einer Mietskaserne im Berliner Stadtteil Wedding beschreibt der damalige Journalist Albert Südekum die Wohn- und Lebensverhältnisse einer Arbeiterfamilie zur Zeit der
Urbanisierung im Deutschen Kaiserreich. Er begleitete an einem heißen und schwülen Augusttag in der Mitte der 1890er Jahre einen befreundeten Arzt bei einem Krankenbesuch in eine Wohnung. Die Patientin wohnte mit ihrer fünfköpfigen Familie im dritten Stock eines Hinterhauses. Aus Geldmangel musste das einzige Zimmer der Wohnung untervermietet werden, so dass der Familie nur die Küche zum Wohnen blieb.

Während der Arzt seine Patientin untersuchte, machte Südekum seine Notizen über die Wohnsituation der Familie. Er beschreibt die ärmliche Ausstattung der Wohnküche bis ins Detail. In der Küche lebten außer der Frau noch drei Kinder sowie der Ehemann, der Gelegenheitsarbeiter war. Südekum berichtet von der ländlichen Herkunft der Familie und von den zahlreichen Umzügen der Familie innerhalb der Großstadt. Durch Krankheiten und Fehl- oder Totgeburten wurde die Familie immer wieder zurückgeworfen.

Der Bericht der kranken Frau über die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse der Familie – sie hatten nur ein einziges Bett – ließ die Erkrankte fast verzweifeln. Ihr Ehemann war schon seit einigen Tagen kaum in der Wohnung; er zog es vor, bei der großen Hitze außer Haus zu schlafen. Die Frau konnte den Lärm und die brütende Hitze
in der Wohnung nicht mehr ertragen; sie fürchtete den Verstand zu verlieren und
sich das Leben zu nehmen. Wohnungselend in Berlin während der Urbanisierung weiterlesen