Wohnungselend in Berlin während der Urbanisierung

Bundesarchiv, Bild 183-1983-0225-309 / CC-BY-SA In dieser Wohnung, bestehend aus einem Zimmer und einer Küche, lebten zu Beginn des 20. Jhdts. 11 PersonenIn seinem Erfahrungsbericht von einem Besuch in einer Mietskaserne im Berliner Stadtteil Wedding beschreibt der damalige Journalist Albert Südekum die Wohn- und Lebensverhältnisse einer Arbeiterfamilie zur Zeit der
Urbanisierung im Deutschen Kaiserreich. Er begleitete an einem heißen und schwülen Augusttag in der Mitte der 1890er Jahre einen befreundeten Arzt bei einem Krankenbesuch in eine Wohnung. Die Patientin wohnte mit ihrer fünfköpfigen Familie im dritten Stock eines Hinterhauses. Aus Geldmangel musste das einzige Zimmer der Wohnung untervermietet werden, so dass der Familie nur die Küche zum Wohnen blieb.

Während der Arzt seine Patientin untersuchte, machte Südekum seine Notizen über die Wohnsituation der Familie. Er beschreibt die ärmliche Ausstattung der Wohnküche bis ins Detail. In der Küche lebten außer der Frau noch drei Kinder sowie der Ehemann, der Gelegenheitsarbeiter war. Südekum berichtet von der ländlichen Herkunft der Familie und von den zahlreichen Umzügen der Familie innerhalb der Großstadt. Durch Krankheiten und Fehl- oder Totgeburten wurde die Familie immer wieder zurückgeworfen.

Der Bericht der kranken Frau über die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse der Familie – sie hatten nur ein einziges Bett – ließ die Erkrankte fast verzweifeln. Ihr Ehemann war schon seit einigen Tagen kaum in der Wohnung; er zog es vor, bei der großen Hitze außer Haus zu schlafen. Die Frau konnte den Lärm und die brütende Hitze
in der Wohnung nicht mehr ertragen; sie fürchtete den Verstand zu verlieren und
sich das Leben zu nehmen.

Südekum berichtet sehr anschaulich von seiner „ersten Forschungsreise in das dunkle Land der Berliner Armenwohnungen“. Er beschreibt ein „menschenreiches Massenmietshaus“ in der Nähe der Reinickendorfer Straße im Wedding. Berlin hatte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts zur größten Mietskasernenstadt der Welt entwickelt und mit durchschnittlich 78 Bewohnern pro Wohngebäude lag die Behausungsziffer in Berlin weltweit deutlich über der anderer Großstädte.[1]

Der Journalist und der Arzt besuchten eine kranke Frau im dritten Stock eines Quergebäudes. Ein typisches Berliner Mietshaus setzte sich zusammen aus Vorderhaus, Seitenflügel und einem oder mehreren Quergebäuden, gruppiert waren die bis zu fünf Stockwerke der Gebäude um meist nur 5,60 Meter im Quadrat messende Lichthöfe – gerade einmal so groß, dass ein Löschfahrzeug darin wenden konnte.[2] Südekum berichtet von einer Kinderschar unterschiedlichen Alters, die lärmend im Hof spielte. Er beschreibt diese Kinder als „arme Großstadtpflanzen“, ganz im Gegensatz zur „glücklicheren Jugend des Dorfes“ – das Leben auf dem Lande hierbei wohl etwas idealisierend. Mit seiner pathetischen Schilderung über die „stagnierende Luft“, die „bleischwer“ im engen Hof lag und der „brütende[n] Hitze“, entstanden durch die seit Tagen von der Sonne gesandten „Glutpfeile“ vermittelt er einen Eindruck der damaligen klimatischen Situation im stickigen Hinterhof einer Berliner Mietskaserne.

Ebenso anschaulich wird der Weg durch das Treppenhaus über knarrende Stufen beschrieben und Südekum meint, dass der „herrschaftlich Wohnende“ sich diesen Lärm einem solchen Treppenhaus gar nicht vorstellen könne. Die Wohnungen waren damals in folgende Kategorien untergeteilt: „hochherrschaftlich“, „herrschaftlich“, “bürgerlich“, und „einfach“. Diese Klassifizierung berücksichtigte die Lage und Ausstattung der Wohnungen,
sowie die Qualität der verwendeten Baumaterialien.[3] In den „einfachen“ Wohnungen wurden minderwertige Materialien, wie z.B. dünne Holzdielen verwendet, die schnell nachgaben und so knarrenden Lärm verursachten.

Südekum schreibt von drei Wohnungseingängen auf jedem Stockwerk, die „mit mehreren Schildern oder Karten behängt waren. Die meisten Wohnungen in diesem Quergebäude hatten nur zwei Räume, nämlich eine Stube und Küche. Das einzige Zimmer wurde teilweise an „Schlafburschen“ und „Logiermädchen“ untervermietet, um so die Mietkosten zu senken – daher auch die vielen Türschilder. In Berlin gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts 251.550 Einzimmerwohnungen mit 768.837 Bewohnern. Durch die Untervermietung an Schlafgänger wurde diese hohe Wohndichte noch weiter erhöht, so hatten um 1880 etwa 15 Prozent aller Haushalte in Berlin einen oder mehrere Schlafgänger in ihrer Wohnung.[4] Nach einer Erhebung in Berlin aus dem Jahre 1885, bei der die Wohnungsgrößen und Berufe der Mieter erfasst wurden,  wohnten 80 Prozent der ungelernten Arbeiter in Einzimmerwohnungen mit einer Küche oder Kammer.[5]

Auch in der aufgesuchten Wohnung war das einzige Zimmer „abvermietet“ worden, die fünfköpfige Familie lebte in der Küche, die sie ungefähr 8-9 Mark Miete im Monat kostete. Der Jahresverdienst eines ungelernten Arbeiters lag um die 900 Mark, eine Wohnung
mit einem heizbaren Zimmer kostetet in Berlin 1895 etwa 230 Mark im Jahr, was ungefähr einem Viertel des Jahresbudgets eines Hilfsarbeiters entsprach. Fast die Hälfte
des Jahresverdienstes wurde für Nahrung ausgegeben, so dass für Kleidung, Möbel
und sonstige Bedürfnisse nur noch wenig Geld übrig blieb.[6]

Dies erklärt auch die Ausstattung der besuchten Wohnung, der Raum der Familie wird als ausgesprochen als unwohnlich beschrieben: Die Mutter lag mit einer Fußverletzung, die sie sich beim Zeitungsaustragen zugezogen hatte, im einzigen Bett des spärlich möblierten Raumes. Der Tisch war vollgepackt mit diversen Haushaltsutensilien und nicht gereinigtem Geschirr. Die Kleidung der Familie hing an den Wänden, in der Ecke standen noch eine Kommode, ein Korbsessel und zwei Schemel. Es war kaum möglich, einen Raum in dem gekocht, gegessen, geschlafen und gewaschen wurde, sauber und ordentlich zu halten. Der Arzt konstatierte, dass die Frau auf Grund der Lebenssituation ihrer Familie neben ihrer Verletzung zudem psychisch stark belastet war. Die schlechte Wohnsituation vieler Arbeiterfamilien war gekennzeichnet durch einen Mangel an Licht und Luft, durch
Überhitzung im Sommer sowie Kälte und Ofenabgase im Winter. Der kondensierte
Wasserdampf in den überbelegten Räumen begünstigte die Entstehung von Atemwegserkrankungen,führte aber auch zu Niedergeschlagenheit und Depressionen.[7]

Die Arbeit des Mannes, der als Flaschenspüler bei einem Bierverlag tätig war, wurde schlecht bezahlt. Im Allgemeinen reichte der Verdienst eines ungelernten Arbeiters nicht aus, eine Familie mit Kindern zu ernähren.[8] Wenn die Kinder etwas größer waren, mussten sie als Boten, Zeitungsverkäufer oder mit ähnlichen Tätigkeiten etwas zum Familienbudget dazuverdienen. Die Mütter übernahmen oft schlecht bezahlte Heimarbeit als Näherin oder aber Gelegenheitsarbeitenaußer Haus, wenn die Kinder aus dem Säuglingsalter heraus waren.

Die beschriebene Familie kam in der Mitte der 1880er Jahre aus einem Dorf in Pommern nach Berlin. Als Motiv für den Umzug in die Stadt gab die Frau an, dass ihr Mann ein „Sozialer“ war – also ein Sympathisant  der Sozialdemokraten – und dadurch „mit dem  Gutsbesitzer in Konflikt geraten war“. Neben körperlichen Züchtigungen der Gutsherren, die damals rechtmäßig waren, mussten sozialdemokratisch orientierte Landarbeiter staatliche Sanktionen auf Grund der bis 1890 geltenden Sozialistengesetze fürchten. Ein weiterer Grund für die „Landflucht“, insbesondere aus den agrarisch geprägten Gebieten östlich der Elbe, waren die schlechten Verdienstmöglichkeiten auf dem Lande.  In der Hoffnung auf ein materiell besseres und freieres Leben zog es die junge Landbevölkerung in die Städte und die expandierenden Industrieregionen des Deutschen Reiches. [9]

Südekum befragte die Frau nach ihren „Wohnschicksalen“ seit dem Wegzug der Familie vom Lande. Sie berichtete davon, dass die Familie etwa alle sechs Monate die Wohnung wechselte, und die Größe der bezogenen Wohnungen stark abhängig vom wechselnden Verdienst ihres Mannes war. Die innerstädtische Mobilität war in den Ballungsgebieten stark ausgeprägt, oftmals auf Grund kurzfristiger, häufig wechselnder Arbeitsstellen
aber auch wegen der häufigen Mietrückstände und der Kündigung des Mietvertrages durch den Vermieter. In Berlin schwankten die jährlichen Wohnungswechsel im Zeitraum von 1879 bis 1894 zwischen 65 und 43 Prozent. Der Volksmund bemerkte damals: „Zehnmal umziehen ist wie einmal abgebrannt“.[10]

Zurück geworfen wurde die Familie außerdem mehrmals durch Früh- oder Totgeburten. Die Säuglingssterberate in Berlin lag zwischen  1891 und 1894 bei 24,2
Totgeburten pro 100 Geburten[11] und dürfte in den Arbeiterquartieren mit den schlechten Wohnverhältnissen noch deutlich höher gelegen haben. Die beiden letzten lebend geborenen Kinder der Familie brachte die Mutter in der jeweils bewohnten Mietwohnung zur Welt – Hausgeburten waren damals nichts Außergewöhnliches.

Staatliche Armenunterstützung hatte die Familie bisher noch nicht in Anspruch genommen, stattdessen gab es gelegentlich finanzielle Hilfe von vermögenden Bekannten. Es ist anzunehmen, dass der Mann einer Jugendfreundin – ein ehemaliger Maurerpolier – durch den anhaltenden Boom in der Baubranche zu seinem Vermögen gekommen ist. Bemerkenswert ist, dass es damals überhaupt eine derartige Solidarität außerhalb der Familie gegeben hat.

Die Familie schlief umschichtig in dem einzigen Bett, die Kinder schliefen auf
ausgebreiteter Kleidung auf dem Fußboden und durften erst in das warme Bett
kriechen, wenn Vater und Mutter aufgestanden waren, was gewöhnlich „vor 5 Uhr
morgens“ geschah. Das Tagewerk der Eltern als Flaschenspüler und Zeitungsausträgerin begann demnach in den frühen Morgenstunden. Die 14-jährige Tochter kümmerte sich währenddessen um den Haushalt und war zusätzlich stundenweise als „Ausläuferin“
mit Botengängen beschäftigt, um den Verdienst der Familie aufzubessern.

In dieser schwierigen Situation der Familie ließ der Familienvater allerdings die notwendige Solidarität vermissen und war auch nach „Feierabend“ kaum zu Haus. Der meist unzureichende Verdienst der ungelernten Arbeiter löste oft eine dauernde Unzufriedenheit bei ihnen aus. Die Frauen wurden durch die Haushaltsführung, Kinderbetreuung und einer zusätzlichen Nebenbeschäftigung physisch und psychisch aufgerieben. So wurde die Ehe von Arbeiterfamilien oftmals auf eine harte Probe gestellt. Die Familienväter flüchteten nicht selten vor ihren  nervösen, schimpfenden Ehefrauen in eine der zahlreichen Berliner Eckkneipen, die damals ausschließlich männlichen Besuchern vorbehalten waren.[12]

Die von Albert Südekum beschriebenen elenden Wohn- und Lebensverhältnisse einer Arbeiterfamilie in einer Berliner Mietskaserne am Ende des 19. Jahrhunderts decken sich mit der neueren Forschungsliteratur. Anhand der dort ermittelten Zahlen und Fakten ist festzustellen, dass das Wohnschicksal der von Südekum beschriebenen Familie keine Ausnahme, sondern für die Familien von Hilfs- und Gelegenheitsarbeitern eher die Regel war. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Leben von Unterschichtfamilien damals von Kargheit und Verzicht, beengten und ungesunden Wohnverhältnissen sowie von Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut geprägt war.

Derartig beengte Wohnverhältnisse, wie sie zur Zeit der Urbanisierung anzutreffen waren, sind im Deutschland der Gegenwart wohl eher selten geworden – allerdings dürften die weiter stark steigenden Mietkosten den Geringverdienern heute ähnliche Sorgen bereiten, wie den Gelegenheitsarbeitern damals.


Quelle:

Albert Südekum: Großstädtisches Wohnungselend, S. 14-19, in: Großstadt Dokument, Bd. 45, in: Im Sittenspiegel der Großstadt, 4. Bd., Öffentliches und heimliches Berlin, hg. v.: Hans Ostwald, Berlin und Leipzig 1908.

Literatur:

Rosemarie Baier: Leben in der Mietskaserne. Zum Alltag Berliner Unterschichtsfamilien in den Jahren 1900 bis 1920, in: Gesine Asmus: Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901 – 1920, Reinbek 1982.

Franz Brüggemeier, Lutz Niethammer: Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich,  in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 16 (1976).

Johann Friedrich Geist; Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus, Bd. 2, München 1984.

Werner Hegemann: 1930. Das steinerne Berlin ; Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt. Geringfügig gekürzte Ausgabe der Originalfassung von 1930. Berlin 1963.

Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die „Großstadt-Dokumente“, Köln 2006.

Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871 – 1918, Frankfurt am Main 2007.

Jörg Vögele: Sozialgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse während der Urbanisierung, Berlin 2001.

Anmerkungen:

[1] Werner Hegemann: 1930. Das steinerne Berlin, S. 19.

[2] Ebd., S. 230

[3] Johann Friedrich Geist; Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus, S. 270.

[4] Jörg Vögele: Sozialgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse, S. 232.

[5] Franz Brüggemeier, Lutz Niethammer: Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich, S. 69.

[6] Ebd., S. 112.

[7] Ebd., S. 94.

[8] Ebd., S. 115.

[9] Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht, S. 136.

[10] Brüggemeier, Niethammer: Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich, S. 83-84.

[11] Vögele: Sozialgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse, S. 135.

[12] Rosemarie Baier: Leben in der Mietskaserne, S.251.

2 Gedanken zu „Wohnungselend in Berlin während der Urbanisierung“

  1. Wow! Was für wahnsinnige Zahlen.. das heißt anders gesagt: Bei 251.550 Einzimmerwohnung und 768.837 Bewohnern müsste jede Wohnung im Durchschnitt 3 Bewohner haben. Letzte Woche war ich erst in Berlin und kann nur sagen, zum glück haben sie echt schön große Altbauten. Wäre interessant die neuen Zahlen, nach der Urbanisierung des 20. Jahrhunderts zu erfahren. Berlin hat ja mittlerweile 3.5 Millionen.

    1. Anmerkung: Um 1900 lebten in Berlin knapp 1,9 Mio. Menschen, davon lebten 768.837 in 251.550 Einzimmerwohnungen. Dass heißt, im Durchschnitt lebten drei Menschen in nur einem einzigen Raum – oft waren es mehr, wie im geschilderten Fall. Weitere interessante Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung in Berlin:
      http://www.verwaltungsgeschichte.de/p_berlin.html

      Die spätere Bevölkerungszunahme auf über 4 Millionen Einwohner ist durch die Eingemeindung der Nachbarstädte Charlottenburg, Schöneberg etc. und kleinerer Gemeinden im Rahmen des Groß-Berlin-Gesetzes zu erklären, dass 1920 in Kraft trat. Mehr Info darüber: http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9F-Berlin

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