In seinem Erfahrungsbericht von einem Besuch in einer Mietskaserne im Berliner Stadtteil Wedding beschreibt der damalige Journalist Albert Südekum die Wohn- und Lebensverhältnisse einer Arbeiterfamilie zur Zeit der
Urbanisierung im Deutschen Kaiserreich. Er begleitete an einem heißen und schwülen Augusttag in der Mitte der 1890er Jahre einen befreundeten Arzt bei einem Krankenbesuch in eine Wohnung. Die Patientin wohnte mit ihrer fünfköpfigen Familie im dritten Stock eines Hinterhauses. Aus Geldmangel musste das einzige Zimmer der Wohnung untervermietet werden, so dass der Familie nur die Küche zum Wohnen blieb.
Während der Arzt seine Patientin untersuchte, machte Südekum seine Notizen über die Wohnsituation der Familie. Er beschreibt die ärmliche Ausstattung der Wohnküche bis ins Detail. In der Küche lebten außer der Frau noch drei Kinder sowie der Ehemann, der Gelegenheitsarbeiter war. Südekum berichtet von der ländlichen Herkunft der Familie und von den zahlreichen Umzügen der Familie innerhalb der Großstadt. Durch Krankheiten und Fehl- oder Totgeburten wurde die Familie immer wieder zurückgeworfen.
Der Bericht der kranken Frau über die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse der Familie – sie hatten nur ein einziges Bett – ließ die Erkrankte fast verzweifeln. Ihr Ehemann war schon seit einigen Tagen kaum in der Wohnung; er zog es vor, bei der großen Hitze außer Haus zu schlafen. Die Frau konnte den Lärm und die brütende Hitze
in der Wohnung nicht mehr ertragen; sie fürchtete den Verstand zu verlieren und
sich das Leben zu nehmen. Wohnungselend in Berlin während der Urbanisierung weiterlesen