Wer ein guot muos wil haben
Ein Essay von Peter Rose
„Speisen wie im Mittelalter“ – zahlreiche gastronomische Angebote versprechen den Menschen des 21. Jahrhunderts einen authentischen Eindruck der „Gaumenfreuden“ mittelalterlicher Küche zu vermitteln. Es stellt sich die Frage, ob diese nachgestellte historische Erlebnisgastronomie die Lebenswirklichkeit der Ernährung des Mittelalters auch nur annähernd widerspiegelt oder ob es lediglich eine idealisierte Fiktion von ritterlichen Festgesellschaften ist, die an opulenten Tafeln mit „Wein, Weib und Gesang“ schlemmen.
An Hand der überlieferten deutschsprachigen Kochbuchliteratur aus dem späten Mittelalter lassen sich einige spezifische Eigenheiten der Speisenzubereitung vor mehr als 500 Jahren näher beleuchten. Beim Studium der überlieferten Kochbücher sind die verschiedenen Intentionen der mittelalterlichen Küche zu erkennen und auch Bezüge zu heutigen Essgewohnheiten scheinen oftmals auf der Hand zu liegen. Bevor der Blick auf die Rezepte der mittelalterlichen Kochbücher gerichtet werden soll, um schließlich einige mögliche Verbindungen zu heutigen Essgewohnheiten aufzuzeigen, folgt zunächst ein grober Umriss der gesellschaftlichen Strukturen des Spätmittelalters im Zusammenhang mit der Nahrungsmittelversorgung weiter Teile der mittelalterlichen Bevölkerung im christlichen Abendland.
Von der Hand in den Mund
Die mittelalterliche Landwirtschaft konnte im Gegensatz zu der heutigen Agrarindustrie keinen Überfluss produzieren. Die äußerst knappe Nahrungsdecke des frühen Mittelalters führte dazu, dass nach schlechten Getreideernten ersatzweise auch Eicheln und Blätter gemahlen und als Brei gegessen wurden. Im Spätmittelalter mussten mehr als drei Viertel der gesamten Einkünfte einer durchschnittlichen Familie für den Erwerb von Nahrungsmitteln ausgegeben werden.[ref]Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 13.[/ref]
Ein Großteil der damaligen Steuerzahler galt als arm oder besitzlos, so dass im Mittelalter lediglich eine kleine Oberschicht ohne Nahrungssorgen leben konnte. Jede Hungersnot auf Grund von Missernten oder Schädlingsbefall und auch jede größere Teuerung brachte die Armutsstrukturen des Mittelalters unbarmherzig ans Licht. Bis in das 15. Jahrhundert hinein traten solche extremen Nahrungsmittelengpässe erschreckend regelmäßig in einem Abstand von sieben bis dreizehn Jahren auf.[ref]Ebd., S. 27.[/ref]
Der Hunger war die existentiellste Frage, die sich den Menschen im Mittelalter stellte. „Unser täglich Brot gib uns heute“ betete man im Vaterunser wahrscheinlich mit weit größerer Eindringlichkeit als heute. Mindestens einmal im Leben erlebte die breite Masse der Bevölkerung eine extreme Teuerung, wenn nicht gar eine furchtbare Hungersnot. In den bürgerlichen Oberschichten und in den adligen oder kirchlichen Kreisen hingegen wurden Gaumenfreuden aus besonders extravaganten und teuren Lebensmitteln zubereitet – auch, um sich vom „gemeinen“ Volk abzuheben.[ref]Ebd., S. 249.[/ref]
Für die große Masse der mittelalterlichen Menschen bestanden Mahlzeiten jedoch aus einfachen Zutaten, die abhängig von der Jahreszeit und der Region waren. Nach Missernten lebte ein Großteil der Landbevölkerung an der unteren Grenze des Existenzminimums – eben „von der Hand in den Mund“.
Mediale Verbreitung mittelalterlicher Kochkünste
Aus dem Mittelalter sind zahlreiche Kochbücher überliefert, so sind in deutscher Sprache insgesamt 46 Rezeptsammlungen und Kochanweisungen bekannt.[ref]Aichholzer, Doris: „Wildu machen ayn guet essen…“, Bern 1999, S. 14.[/ref] Diese deutschsprachige Kochbuchliteratur entstand ab dem 14. Jahrhundert und fand ihre ersten Leser wohl in Kreisen des gehobenen Bürgertums in den expandierenden Städten im Reich. Kochrezepte wurden damals in den Bereich der mechanischen, praktischen Künste eingeordnet. Dieses Ordnungssystem, genannt septem artes mechanicae, hatte Hugo von St. Viktor – Leiter einer Klosterschule in Paris – im 12. Jahrhundert ersonnen. Hugo selbst sah die Kochkunst im Bereich der Heilkunst, der medicina, angesiedelt; im Spätmittelalter wurde das Kochen dann der Landwirtschaft und dem Haushalt zugeordnet.[ref]Ebd., S. 19f.[/ref]
Die aus dem Mittelalter überlieferten Kochbücher enthalten europäische Rezepte von Oberschichtsspeisen und belegen einen internationalen Kulturaustausch: So sind bereits im 15. Jahrhundert die Ravioli in verschiedenen Städten nördlich der Alpen bekannt. Ein wichtiger Beitrag Deutschlands zum abendländischen Speisezettel war die Sülze, die schon um 1300 in der französischen Oberschicht sehr beliebt war. Plagiate und ungeniertes Abschreiben waren in der spätmittelalterlichen Kochbuchliteratur aber derart weit verbreitet, dass man kaum Rezepte findet, die etwas über die regionale Identität aussagen könnten. Soviel jedenfalls kann man sagen: Der Speiseplan der bäuerlichen Bevölkerung war lediglich durch die Natur der unmittelbaren Umgebung bestimmt und nicht etwa durch internationale Kochbücher.[ref]Schubert, S. 298.[/ref]
Als ältestes deutsches Kochbuch gilt Daz buch von guter spise[ref]Hajek, Hans; Kupfer, Artur; Ehlert, Trude (Hrsg.): Daz buoch von guoter spîse, Frankfurt a. M. 1994. Online-Text: http://turba-delirantium.skyrocket.de/bibliotheca/anonymus_buochvonguoterspise.htm (01.06.2012)[/ref], geschrieben in den Jahren zwischen 1345 und 1354 von einem unbekannten Autor, der es mit den folgenden zum Lesen motivierenden Versen einleitete:
Diz buoch sagt von guoter spise,
Daz machet die unverrihtigen koeche wise.
Ich wil uech underwisen
von den kochespisen:
der sin niht versten kan,
der sol diz buoch sehen an,
wie er groz gerihte kuenne machen
von vil kleinen sachen.
Gut hundert Jahre später entstand um 1460 das Werk des Meisters Hansen[ref]Ehlert, Trude (Hrsg.): Maister Hannsen des von Wirtenberg Koch, Frankfurt a. M. 1996.[/ref], eines Kochs am Hofe eines württembergischen Adligen, ebenfalls mit einleitenden Versen in Reimform:
Wer ein guot muos wil haben
das mach von sibennler sachen
du muost haben milch, saltz und schmaltz,
zugker, ayer und mel
saffran dar zu
So wirt es gell.
Diese mittelalterliche Kochanweisung wird bis heute – wenn auch etwas modifiziert – in deutschen Kindergärten und Sandkisten in dem Lied „Backe, backe Kuchen…“ vielfach zitiert.
Wenige Jahre nach der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern entstand 1485 in Nürnberg die Kuchenmaistrey als eines der ersten gedruckten deutschsprachigen Kochbücher. Mit dem Kochbuchdruck fanden die mittelalterlichen Kochrezepte zunehmende Verbreitung in der bürgerlichen Bevölkerung der Städte. Bis 1500 waren bereits dreizehn Auflagen des erfolgreichen Kochbuches gedruckt und verkauft. Die letzte Auflage dieses langlebigen „Bestsellers“ erschien noch fast 200 Jahre später.[ref]Ehlert, Trude (Hrsg.): Küchenmeisterei. Edition, Übersetzung und Kommentar zweier Kochbuch-Handschriften des 15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 2010, S. 7. Digitalisat der Augsburger Kuchenmaistrey von 1507: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00009309/images/ (07.08.2012)[/ref]
Eine Besonderheit der Kuchenmaistrey war die thematische Gliederung: Fastenspeisen, Fleischspeisen, Eierspeisen, Saucen und Senf, die Verwendung von Essig und die Erste Hilfe für den verdorbenen Magen. Die in dem Buch vorgegebene Ordnung diente offenbar nicht nur zum leichteren Auffinden der Rezepte, sondern kann auch als Ratgeber zu einer – im christlichen Sinne – „ordentlichen“, aber auch einer gesunden Lebensführung verstanden werden.
Mittelalterliche Kochbücher können uns neben den Kochanweisungen auch Auskünfte über das soziale Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft geben.[ref]Aichholzer, S. 19f.[/ref] Die Vielzahl der überlieferten deutschsprachigen Kochbücher spiegelt die Bedeutung der „gehobenen“ Küche in Kreisen des Adels und des aufstrebenden Bürgertums wider.
Festtage und Fasttage
Die zahlreichen und häufig zitierten Zeugnisse und Überlieferungen mittelalterlicher Tafelfreuden beziehen sich auf Feste, bei denen sich der Gastgeber nicht lumpen ließ. Das Sattessen gehörte im Mittelalter zum Fest, also einem Ereignis, das nicht alltäglich war. Die überlieferten Quellen berichten zumeist aber über das Außergewöhnliche, nicht über den normalen Alltag. Von den Zeiten der Ernte und den winterlichen Schlachtwochen einmal abgesehen, war für die meisten Menschen in der übrigen Zeit des Jahres „Schmalhans Küchenmeister“.[ref]Ebd., S. 12.[/ref]
Religiöse Vorschriften übten einen starken Einfluss auf die mittelalterlichen Essgewohnheiten aus. Im Spätmittelalter gab es etwa 150 Fastentage, Tage an denen keine Speisen aus Fleisch- oder Milchprodukten gegessen werden durften, – streng ausgelegte Fastenvorschriften verboten darüber hinaus den Genuss von Eiern.[ref]Aichholzer, S. 54f.[/ref] In der Fastenzeit mussten demnach alternative Gerichte auf den Tisch gebracht werden: Fleisch wurde durch Fisch ersetzt, Milch durch die sogenannte Mandelmilch – zerkleinerte, in Milch, Wasser oder Wein gekochte Mandeln.[ref]Ebd., S. 56.[/ref] Die mittelalterlichen Kochbücher zeugen von einer ausgeprägten Kreativität bei der Zubereitung fastenkonformer Ersatzspeisen. So gab es beispielsweise Anleitungen, wie man wurst van fishen machen konnte, nämlich indem man kleingehackte Fische gut gewürzt in Därme presste und in einem Weinsud kochte oder auch, wie man einen Wildbraten auf Fischbasis[ref]Maister Hannsen, fol. 90 v. Zit. n. Ehlert, Trude (Hrsg.): Maister Hannsen des von Wirtenberg Koch, Frankfurt a. M. 1996, S. 306.[/ref] zubereiten konnte, der immerhin ähnlich aussah wie sein Vorbild aus Fleisch. Aus kleingehackten Fischen geformte Rebhühner[ref]Aichholzer, S. 66.[/ref] und Hasen[ref]Maister Hannsen, fol. 85 r. Zit. n. Ehlert, Maister Hannsen, S. 301.[/ref] oder auch Eier aus Mandelmilch[ref]Maister Hannsen, fol. 19 r. Zit. n. Ehlert, Maister Hannsen, S. 235.[/ref] sind weitere Beispiele für Imitationsgerichte zur Fastenzeit.
Für eine möglichst getreue Nachbildung der Ersatzspeisen setzten die Kochkünstler des Mittelalters verschiedene Färbemittel und Glasuren sowie Gewürze zur Geschmacksveränderung ein. Die Köche färbten Gerichte mit Eigelb und Mehl oder mit Safran gelb, mit Zwiebelschalen oder Rosinen braun, mit geriebenem Lebkuchen schwarzbraun, mit Obst- oder Beerensäften rot und mit Spinat oder Petersilie grün.[ref]http://u01151612502.user.hostingagency.de/malexwiki/index.php/Schaugerichte(01.06.2012)[/ref] Auch wurde an Fastentagen Mus in allen möglichen Variationen zubereitet: Hanfmus, Holundermus, Kirschmus, Lauchmus, Petersilienmus, Pflaumenmus, Reismus, Veilchenmus und viele andere Arten von Mus mehr – die Phantasie der mittelalterlichen Köche kannte hier kaum Grenzen.[ref]Aichholzer, S. 56.[/ref]
Das Auge aß mit
Die Köche des Mittelalters – insbesondere die bei Hofe arbeitenden – hatten neben dem Anspruch, schmackhafte und abwechslungsreiche Speisen auf den Tisch zu bringen, offenbar auch den Ehrgeiz, den Gästen an der Tafel auch einen optisch ansprechenden „Augenschmaus“ zu präsentieren und kreierten zu diesem Zweck wahre Wunderwerke an Festgerichten. Die Schaugerichte dienten der Unterhaltung der Gäste und sollten wohl auch den Reichtum des Gastgebers zum Ausdruck bringen.
Gebratenen Pfauen, Fasanen oder Schwänen wurde ihr vorher entferntes Federkleid wieder angesteckt und es wurden mit lebenden Vögeln gefüllte Pasteten serviert, die nach dem Anschnitt zur Überraschung der Gäste aus dem Pastetenteig flatterten.[ref]http://u01151612502.user.hostingagency.de/malexwiki/index.php/Schaugerichte(01.06.2012)[/ref] Ein „Schweinskopf mit höllischen Flammen“ dürfte ebenfalls für einen bleibenden Eindruck an der Festtafel gesorgt haben, denn der Schlund des gebratenen Wild- oder Hausschweins wurde mit Branntwein getränkt und mit Hilfe eines glühenden Kieselsteins nach dem Servieren wie von Geisterhand entzündet.[ref]Ebd.[/ref] Auch das abenteuerliche Ei[ref]Maister Hannsen, fol. 99 r. Zit. n. Ehlert, Maister Hannsen, S. 315.[/ref] – ein aus vielen normalen Eiern und mit Hilfe zweier unterschiedlich großer Schweinsblasen geformtes und gekochtes riesiges Ei – wird wohl ebenso für nachhaltige Begeisterung an der mittelalterlichen Tafel gesorgt haben, wie ein ganzes gekochtes Huhn in einer Flasche mit engem Hals.[ref]Maister Hannsen, fol. 88 v., 89 r. Zit. n. Ehlert, Maister Hannsen, S. 304f.[/ref] Die Arbeitsanweisungen und Handgriffe zur Zubereitung dieser effektvollen Gerichte sind in den jeweiligen Kochrezepten detailliert beschrieben.
Weitere bekannte Schaugerichte sind aus einer Mischung aus Mandeln und Zucker geformte „weiße Igel“ mit Stacheln, Augen und Mund aus Mandeln. Für einen „schwarzen Igel“ ersetze man den Grundstoff Mandelbrei durch Rosinenmus und die Stachelimitationen bestanden aus schwarzen Gewürznelken. Sollte der Igel rot sein, wurde der Körper aus einer Feigen- und Zuckermischung geformt. Eine goldene Muskatnuss im Mund des Igels mache ihn gesund – vnd ain goldein muscat gib jm jn den mund das ist dem Igel gesunt –so fügte der Autor dieses Kochbuchs scherzhaft hinzu.[ref]Maister Hannsen, fol. 18 v., 19 r. Zit. n. Ehlert, Maister Hannsen, S. 234f. Vgl. a. Aichholzer, S. 66.[/ref]
Diese und viele weitere Beispiele optisch ansprechender Gerichte aus den betrachteten Kochbüchern belegen, dass bereits im Mittelalter das Auge mit aß – zumindest an den festlichen Tafeln des Adels und des gehobenen Bürgertums.
Standesgemäß speisen
Soziale Unterschiede beim Essen und Trinken waren im Mittelalter sehr ausgeprägt. Gutes Essen war ein wichtiges Standes- und Statussymbol und spielte bei der Selbststilisierung der Oberschichten und ihrer Präsentation von Macht eine bedeutende Rolle.[ref]Schubert., S. 249.[/ref] Raffinierte Kochrezepte sollten in wohlhabenderen Kreisen sowohl für einen Gaumen- als auch einen Augenschmaus sorgen.
Trotz – oder gerade wegen – der sozialen Bedeutung des Essens gab es damals auch kritische Stimmen gegenüber opulentem und übermäßigem Genuss von Mahlzeiten. Die ungleiche Verteilung der Nahrung wird sicher ein Grund dafür gewesen sein, dass die Völlerei – in mittelhochdeutscher Sprache vrâz genannt – zu den sieben Todsünden zählte. Ein Völler wurde nach damaliger Vorstellung in der Hölle mit teuflischer, sicherlich nicht wohlschmeckender, Zwangsernährung gestraft – „er kam in Teufels Küche.“[ref]Ebd.[/ref] Die soziale Differenzierung beim Essen wird auch durch die sprachlichen Unterscheidung der damals geläufigen Begriffe „Herrenspeise“ und „Bauernschmaus“ deutlich.[ref]Aichholzer, S. 64.[/ref] In klarer Abgrenzung zum Bauernstand wurden in adeligen und später auch in bürgerlichen Kreisen Speisen serviert, die den Bauern in der Regel nicht vergönnt waren.
„Das Huhn macht manchen zum Koch“ – so lautete ein mittelalterliches Sprichwort, weil auch die einfache Bevölkerung sich dieses Fleisch noch am ehesten leisten konnte. Hühner- und Geflügelgerichte werden in den mittelalterlichen Kochbüchern unter allen Fleischspeisen auch am häufigsten genannt. Auch Eierspeisen gehören zu den wichtigsten Gerichten des mittelalterlichen Speisezettels. Das Huhn konnte die sozialen Gegensätze im Bereich der Nahrung ein wenig abmildern, Geflügelgerichte und Eierspeisen waren in der gesamten Bevölkerung beliebt.[ref]Ebd., S. 120ff.[/ref] Dennoch: Der schon erwähnte vegetarische Brei – in mittelhochdeutscher Sprache muos – war das Hauptgericht der durchschnittlichen Bevölkerung und so hätten die Menschen damals eigentlich beten müssen: „Unser täglich Brot und unseren täglichen Brei gib uns heute.“[ref]Ebd., S. 82f.[/ref]
Gesunde Ernährung – schon im Mittelalter?
In der Einleitung zu dem gedruckten Kochbuch Kuchenmaistrey preist der Autor die gesundheitsfördernde Wirkung maßvoller Ernährung. Den in den Kochbüchern beschriebenen Speisen solle man sich ordentlich vnnd zu rechter zeit bedienen – eine klare Absage an die damals wohl ziemlich weit verbreitete Völlerei. Dem Leser wird weiterhin erklärt, dass ein ordentlicher koch mit wol bereiter natúrlicher speiß ist hie in disser zeit der best artzt.[ref]Wagner: Küchenmeisterei (1490), fol. 1 v. Zit. n. Ehlert: Küchenmeisterei, S. 7.[/ref] Den Zusammenhang zwischen der Kunst des Kochens und der Kunst des Heilens hatte ja Hugo von St. Viktor schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts festgestellt.
Die mittelalterliche Medizin war von der humoralpathologischen Harmonielehre geprägt, die bereits in der Antike entwickelt wurde: Um eine Harmonie des Körpers und der Seele des Menschen zu erreichen, war es nach damaliger Auffassung notwendig, dass die verschiedenen Säfte des Körpers – Schleim, rote Galle, schwarze Galle und Blut – in einer gut ausbalancierten Mischung vorhanden waren. Für eine gesunde Mischung der Körpersäfte konnte nach mittelalterlicher Diätlehre auch eine ausgewogene Ernährung maßgeblich beitragen.[ref]Aichholzer, S. 38f.[/ref] Gesundheitsbewusstes Essen war demnach auch im Mittelalter schon ein Thema.
Einigen Lebensmitteln wurden ganz spezielle Wirkungen zugeschrieben. So konnten Mandeln nach mittelalterlicher Auffassung die intellektuelle Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen – im Kochbuch des Meisters Eberhard heißt es, sie machen wachßen das hirrn und nützen den Menschen, die so serr studirnn.[ref]Feyl, A.: Das Kochbuch Meister Eberhard. Ein Beitrag zur altdeutschen Fachliteratur, Diss. Freiburg im Br. 1963, Rezept Nr. 40, S. 94. Zit. n. Aichholzer, S. 42.[/ref] Kochbücher, die in Klöstern – den „Denkfabriken“ des Mittelalters – entstanden sind, enthalten auffällig viele Rezepte auf Basis von Mandeln. Bis heute sind Nüsse und Mandeln auch ein wesentlicher Bestandteil des sogenannten „Studentenfutters“.[ref]Vgl. Aichholzer, Anm. 114., S. 42.[/ref]
Mittelalterliche vs. moderne Küche – ein kurzes Fazit
Im Spätmittelalter mussten rund 80 Prozent der Einkünfte eines durchschnittlichen Familieneinkommens für den Erwerb von Lebensmitteln ausgegeben werden[ref]Schubert, S. 13.[/ref] – heute sind es laut Auskunft des Statistischen Bundesamts nur noch 14 Prozent[ref]https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/Konsumausgaben/Konsumausgaben.html(17.04.2012).[/ref] Diese signifikante Veränderung ist auch darauf zurückzuführen, dass es seit dem Mittelalter grundlegende technische Neuerungen im Bereich der Nahrungsmittelproduktion gegeben hat.
Interessant ist aber auch, was trotz vieler moderner Veränderungen über die Jahrhunderte an mittelalterlichen Eigenarten der Kochkunst und Nahrungsaufnahme bis in die Gegenwart Bestand hat – auch wenn sich die ursprüngliche Intention offenbar stark gewandelt hat: So werden die Fastenregeln gegenwärtig zwar nicht mehr ganz so eng ausgelegt wie im Mittelalter, dennoch gilt der Freitag auch heute noch als „Fischtag“ und auch in der Fastenzeit vor Ostern üben sich die christlich geprägten Menschen des 21. Jahrhunderts wieder zunehmend im Verzicht beim Genuss von bestimmten Nahrungs- und Genussmitteln – im Gegensatz zum Mittelalter allerdings eher auf freiwilliger Basis.
Der Ersatz von Fleisch ist auch bei der Zubereitung vegetarischer Gerichte von aktueller Bedeutung. Wie schon im Mittelalter, wird heute auch versucht – wenngleich aus einer ganz anderen Motivation heraus – mit eiweißhaltigen Grundprodukten, wie beispielsweise Tofu, verfeinert mit einer kreativen Würzung und Färbung, Fleischgerichte optisch und geschmacklich zu imitieren. Weitere moderne Täuschungsversuche lassen sich bei sogenanntem Formfleisch, wie „Chicken Nuggets“, „gekochtem Schinken“ aus verklebten Fleischfasern und auch im Käseimitat – dem sogenannten Analogkäse – erkennen. Die Motive für diese Imitationen und der offenkundigen Verbrauchertäuschung liegen vermutlich in einer angestrebten Gewinnmaximierung der Lebensmittelindustrie begründet.
Igelförmige Speisen, die bereits in den mittelalterlichen Kochbüchern in ihren verschiedenen Variationen beschrieben wurden, erlebten in den 1950er und 1960er Jahren offenbar eine Renaissance in Gestalt der Käse- oder Mettigel an Party- und Festbuffets. Generell kann man wohl sagen, dass Schaugerichte in allen Epochen der festlichen Erhöhung und der Entrückung aus dem Alltag dienen sollten[ref]Vgl. Aichholzer, S. 64.[/ref] – und offenbar auch heute noch dienen, wie man an den aufwendig gestalteten Büffets in gehobenen Hotels und auf Kreuzfahrtschiffen unschwer erkennen kann.
Die Bezeichnung „fürstliches Mahl“ wenden wir immer noch für Gerichte gehobenen Standards an. Auch sind heutzutage zum Teil deutliche soziale Unterschiede und Abgrenzungen bei den Essgewohnheiten auszumachen: Gourmettempel, Luxusrestaurants und Naturprodukte aus biologischem Anbau für Geschäftsleute und Gutverdiener; Lebensmitteldiscounter, Fast-Food-Restaurants und industriell hergestellte Lebensmittel für die Unterschichten mit geringem Einkommen – wobei hier die Grenzen in unserer pluralistischen Gesellschaft im Gegensatz zur starren mittelalterlichen Ständegesellschaft eher fließend zu sehen sind.
Neben den Grundlagen einer gesundheitsbewussten Ernährung gab es im Mittelalter offenbar aber auch schon Ansätze für eine schnelle Nahrungsaufnahme unterwegs, wie wir sie heute in Form von Schnellimbissen kennen. So wurde in einer Urkunde von 1378 Chunrat der choch vor prukk erwähnt.[ref]Regensburger Urkundenbuch, 29. November 1378.[/ref] Die Brücke, an der Konrad der Koch damals wirkte, ist die „Steinerne Brücke“, die in Regensburg über die Donau führt. Konrads damalige Garküche an der Donaubrücke ist heute noch in Betrieb und wird – wenn auch nicht ganz unumstritten – als älteste Wurstbraterei der Welt bezeichnet. Die mittelalterlichen Garküchen als Vorläufer der heutigen Imbissketten zu sehen, wäre vielleicht etwas zu weit gegriffen – aber Tendenzen sind durchaus zu erkennen.
Trotz aller kulinarischen Raffinesse mittelalterlicher Gerichte, wie sie in den überlieferten mittelalterlichen Kochbüchern beschrieben steht: Wer heute ein möglichst authentisches mittelalterliches Gericht essen möchte, dem empfiehlt der Historiker Ernst Schubert († 2006), einen mit Wasser zubereiteten, ungezuckerten, grobkörnigen Haferbrei – das verbreitetste Gericht im deutschen Mittelalter – zu probieren. Angesichts populärer Auffassungen und entsprechender „Mittelalter-Events“ und gastronomischer Angebote, wie z.B. „Tafeln wie im Mittelalter“, fällt es aber sicherlich schwer sich „statt Menschen, denen der Bratensaft nur so in die Bärte träufelte“, die überwiegende Mehrzahl mittelalterlichen Menschen beim Löffeln und Kauen des eher unspektakulären Haferbreis vorzustellen.[ref]Schubert, S. 11f.[/ref]
Quellen und Literatur
Aichholzer, Doris: „Wildu machen ayn guet essen…“, Bern 1999.
Ehlert, Trude (Hrsg.): Küchenmeisterei. Edition, Übersetzung und Kommentar zweier Kochbuch-Handschriften des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2010.
Ehlert, Trude (Hrsg.): Maister Hannsen des von Wirtenberg Koch, Frankfurt a. M. 1996.
Hajek, Hans; Kupfer, Artur; Ehlert, Trude (Hrsg.): Daz buoch von guoter spîse,
Frankfurt a. M. 1994.
Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt 2006.
Großartiger Beitrag, vielen Dank!
Prima, habe ich gern gelesen!
Zum Haferbrei dann vielleicht etwas mit Essig versetzten Wein? Nein, lieber nicht.
Danke für den interessanten Text und auch für die Quellennachweise.
Die „Harmonielehre“ kenne ich eigentlich nur aus dem Musikunterricht, gemeint ist wohl die Humoralpathologie bzw. Säftelehre.
Danke für das freundliche Feedback und den Hinweis bezüglich der „Harmonielehre“. Nach meinen Recherchen wird dieser Begriff in der einschlägigen Literatur auch im Zusammenhang mit dem angestrebten Einklang – einer „gesunden Mischung“ – der vier Körpersäfte benutzt.
Vgl. a. : Zwierlein, Anna-Julia: Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne. Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte, Trier 2002, S. 62.
Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin, 15. Aufl. Stuttgart/New York, 2002, S. 4.
Um die im Essay erwähnte „Harmonielehre“ von der gleichnamigen Lehre der Musik deutlicher abzugrenzen, habe ich nun das Adjektiv „humoralpathologisch“ vorangestellt.
Mit besten Grüßen
Peter Rose